Montag, 18. August 2014

Damoklespfützen



Eine Reizwortgeschichte inspiriert von Westendstories




Zwischen durchgeweichten Keksen und Salzstangen finde ich im hintersten Küchenschrank einen Schokoriegel. Ich stecke ihn in meine Tasche und will zurück nach oben, als ich es höre. Etwas klopft gegen die Kellertür. Leise und monoton, aber mit nervenaufreibender Hartnäckigkeit. Die Flut hat den leeren Wäschekorb nach oben getragen und nun schwemmt sie ihn ins Wohnzimmer. Nach den Ratten, den Spinnen und dem Eichhörnchen, das uns beide überraschte, der letzte Flüchtling und ich trage ihn zu dir in den ersten Stock. Du hast viel in dieses Haus investiert. Genug Zeit, Schweiß und Blut, um es zu einem Teil von dir zu machen. Winzig, verschroben und uralt war es auf den ersten Blick meine Liebe, aber es wurde deine Leidenschaft. Nun liegt es im Sterben. Vorgestern gesellte sich Sturm zum Regen und deckte Teile des Daches ab. Jetzt kommt das Wasser nicht mehr nur von unten. Eimer, Töpfe, sogar Kaffeetassen stehen auf dem Speicher, um das Schlimmste hinauszuzögern. Mit dem Ausleeren wechseln wir uns ab, aber während der letzten Nachtschicht bist du eingeschlafen und obwohl ich unsere letzten trockenen Geschirrtücher benutzt habe, um das übergelaufene Wasser aufzuwischen, vergrößern sich die feuchten Kreise an unserer Schlafzimmerdecke weiter. Damoklespfützen. Nichts wird mehr richtig trocken, die Luft ist feucht und kühl. „Klamm ist das neue Schwarz“, lächelst du und reibst die wunden Stellen an meinen Füßen mit Salbe ein. Merkwürdig, dass etwas gleichzeitig nässen und brennen kann. Es war dumm von mir, ohne Socken in die Gummistiefel zu schlüpfen, aber du bist nicht wütend. Ich bin es ständig. Wütend auf das nie abbrechende Geräusch tropfenden Wassers, die wellige Tapetenabschlusskante, das schimmelnde Brot, am meisten aber über deine Entscheidung, hierzubleiben. Nicht zu gehen an dem Tag an dem der Supermarkt schloss und die meisten Bewohner dieses Ortes vor dem steigenden Wasser flohen. Jetzt ist es zu spät. Wir sind eingeschlossen, gefangen auf der kleiner werdenden Insel, gefangen mit dem Wasser, den Tieren und miteinander. Dir scheint es egal, du hast dich ergeben, ein Verhalten, das mir so fremd ist wie der Bart in deinem Gesicht. Leises Grollen, eine sanfte Erschütterung. Das Fundament ist durchgeweicht, nachgiebig. Putz rieselt auf uns herab bevor ein Riss in der Decke erscheint. Wir müssen das Schlafzimmer aufgeben. Du hast es vorausgesehen und alles Wertvolle ins Arbeitszimmer geschafft. Photoalben, Dokumente, die kleineren Möbel und meine Plattensammlung, alles thront auf dem hässlichen Zebrafell, das du von deinem Vater geerbt hast. Du kletterst aufs Dach, um den Schaden zu begutachten. Ich suche mir einen Platz zwischen dem Gerümpel und gehe die Platten durch. Cassandra Complex, die Pixies, die Ramones. Seit einer Woche haben wir keinen Strom mehr und mit den Batterien gehen wir sparsam um. Das Radio schalten wir zur vollen Stunde ein, noch immer hoffnungsfroh. Anfangs waren wir genervt von den immer gleichen Ansagen. Aufmunterungsversuche, Durchalteparolen, sinnlos. Seitdem nur noch Rauschen zu hören ist, sehne ich sie herbei. Auch mit den Kerzen müssen wir sparsam sein. Die Nächte ziehen sich. Schlafen fällt schwer, wir sind immer erschöpft aber niemals müde und es gibt nichts zu tun. Schweigen gräbt sich ein. Dazwischen halbherziges Ficken. Körper, Herz, Seele. Alles schwindet. Ich ziehe den Riegel aus meiner Tasche, weiß, dass ich ihn teilen sollte, aber sobald er ausgepackt ist vermag ich es nicht mehr. Ein Rumpeln, dann deine Stimme. Leise durch den Sturm, aber etwas macht sie laut und schrill. Ich liege auf dem Fell, der Geschmack der Schokolade ist überwältigend, die lange vergessene Süße nimmt einen Großteil meiner Wahrnehmung in Anspruch, sodass ich nicht bemerke, wie du verstummst.

1 Kommentar:

  1. Madonna! Der Sieg der kulinarischen Wollust über die romantisch-sexuelle Völlerei! "Eine Revolution steht vor dem Tor", würde ich rufen, wenn ich nicht ....

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