Dienstag, 18. Oktober 2016

Anderer Mütter Fische

Jesse kommt, als ich keine Hoffnung mehr in das Türklingeln setze. Sein Blick streift die verschlossenen Flaschen, Opfergaben aus den Händen der wenigen Freunde, die ich ertragen konnte. Gutgemeintes aus aller Welt und zugleich ein geschicktes Umgehen der Frage nach einer angemessenen Begrüßung. Jesses Hände sind leer und er fällt mir um den Hals. Vielleicht kennt er die Regeln nicht, wahrscheinlicher aber, dass er sie ignoriert, denn dazu wurde er geboren.
Sollen wir über anderer Mütter Töchter reden? Fische im Meer, alte Fesseln und neue Freiheit oder hast du den Quatsch schon durch?“
Ohne zu verstummen, beäugt er einige Flaschen, und verzieht anerkennend das Gesicht. Ich nicke ihm zu, soll er sie haben. Das hier ist zu groß, um es zu ersäufen und letztlich lauert am Boden jedes Glases Selbstmitleid. Jesse sammelt ein paar der Flaschen ein, dann steht er vor mir, mustert mein Gesicht und ich frage mich ob er sehen kann, wie dünn meine Haut geworden ist und dass er aufpassen muss.
Du siehst scheiße aus. Lass’ uns abhauen.“
Wohin?“
Sei nicht blöd.“
Das Meer also.

Seit Ihrem Weggang ist die Wohnung gewachsen. Neue, düstere Orte sind hinzugekommen, Leerstellen und Schreine, die gleichsam erbarmungslos an sie erinnern. Eine handvoll Dosen und Päckchen hat sie im Spiegelschrank zurückgelassen. Orange gegen Schmerzen, Blau für den Schlaf, Weiß zum Lächeln. Mein Selbstbewusstsein, ein räudiger Köter, durchwühlt ihre Motive nach vergifteten Leckerchen. Das Ich ist geschrumpft, kneift und schneidet in das Fleisch des müden Tieres. Kurze Nächte haben mich müde gemacht, die leere Bettseite ist ein Abgrund und Träume gefährlich. Ich stecke die blaue Packung in meine Jackentasche.

Aus den Lautsprechern dringt unfassbarer Lärm. HATE. FUCK. DIE. Klingt nicht gesund, würde aber vielleicht ein paar Dinge vereinfachen. Jesse singt und klopft mit den Fingerspitzen aufs Lenkrad. Sein Haar ist wirr und Kajalreste haben sich klumpig unter seinen Augen gesammelt. Die Unbekümmertheit reizt mich zuverlässig, erinnert mich an das, was mir fehlt, was ihr an mir fehlte. Wild und rebellisch hätte ich sie vielleicht halten können. Wild und rebellisch wünschte mich auch meine Mutter, aber das war später. Anfangs stand ich ihr besser, wenn ich unauffällig war. Ansonsten hätte ich sie wahlweise alt gemacht oder ihren Fehlern ein Gesicht verliehen. Meinen Namen, so gestand sie mir irgendwann, hatte sie auf der Wöchnerinnenstation aufgeschnappt, wo sie, von glücklicheren Müttern interessiert beäugt, ihren neu erworbenen Mühlstein durch die Gänge geschleppt hatte. Einen angepassten, oft vergebenen Namen mit Diminutivpotenzial, das vor Ausrufezeichen brach lag. In ihren Zweitgeborenen setzte sie andere Hoffnungen und wurde nie enttäuscht. Jesse. Rebell, Dissident, Traumhändler.

Er dreht das Geplärr leise und fragt mich nach dem Ende. Vor nicht allzu langer Zeit hatte das Wort einen romantischen Beiklang. Zwei Schläfen, zwei Abzüge, ihr entschlossenes Lächeln an meiner Wange, während die Flammen sterbender Welten sich näherfraßen. Stattdessen unerträgliche Profanität, Worte nur, nicht gezielt, aber sie trafen trotzdem. Lange hatte sie ihre Gedanken für sich behalten, beobachtet, abgewägt und alle Gefühle geschluckt. Als sie endlich bereit war, sie auszusprechen, waren sie längst abgekühlt. Wut, Enttäuschung und unerfüllte Ansprüche hatten sich in Argumente gewandelt, denen ich nichts entgegenzusetzen wusste.


Jesse hat die Musik ausgeschaltet, aber mehr als halbherziges Dösen ist nicht drin. Träume und Erinnerungen lauern auch dicht unter Oberfläche des Bewusstseins und ich finde keine Entspannung. Als ich aufgebe, dunkelt es bereits, dennoch sind die vor dem Seitenfenster vorbeiziehenden Konturen vage vertraut. Die Straße ist neu, begradigt und von wohlerzogenen Bäumen zur Allee geadelt. Ihre Vorgängerin war unerbittlich, eine blutgierige Schlange gesäumt von wildem Wald. Es verging kaum ein Monat, in dem sie nicht ein Leben nahm. Weiße Kreuze kündeten von ihrem Blutdurst und obwohl mir manche der Namen vertraut genug sind, um mir das Wasser in die Augen zu treiben, bot sie mir Trost. Ian, Kurt, Jim, die Stimmen der Todgeweihten aus dem Kassettendeck, vor mir die Finsternis und im Hinterkopf den Gedanken, dass eine einzige schnelle Bewegung des Lenkrads im Notfall alles beenden konnten, waren genug, um den Kopf wieder frei zu kriegen. Heute ist Sprit teurer und Trost unbezahlbar.

Schweigend erreichen wir den menschenleeren Parkplatz. Hinter den Dünen liegt das Meer. Jesse murmelt vor sich hin, aber ich höre nicht zu. Auf der unvollkommenen Wasserfläche spiegelt sich der Vollmond weiß und hart. Wir sollten ihn anheulen, verlassene Geschöpfe die wir sind. Nur die Starken ertragen bedingungslose Gottlosigkeit, der Rest heuchelt und beugt das Haupt vor gefährlichen Götzen. Wie zum Beweis lässt Jesse sich in den Sand fallen und zieht eine der mitgebrachten Flaschen aus dem Rucksack. Stolichnaya, ungekühlt, aber so mild, dass es nichts ausmacht.

Die Flasche leert sich schnell und lockert meine Zunge. Szenen fügen sich zu Geschichten, die Vergangenheit wird schmerzlich greifbar. Es war nie perfekt, aber wenn ich es uns einrede, tut es mehr weh und ich stecke sowieso schon so tief in der Scheiße, dass ich auch gleich darin baden kann. Ich rede gierig, zimmere ihr einen Altar aus feinem Sand und forme darauf ihr Bild in all seiner erbarmungslosen Schönheit. Jesse hört zu bis die Worte versiegen.
Lass sie los.“
Er steht auf und deutet in Richtung Meer.
Lass sie los? Wirklich?“
Ich lasse mich in den Sand fallen und lache.

Wann und wie ich loslasse, geht dich nichts an.“
Und das hier? Das geht mich auch nichts an?“
Jesse zieht etwas aus seiner Hosentasche und es dauert ein paar Sekunden, bis ich die Schlaftabletten erkenne. Weitere Sekunden in denen ich ebenso hektisch wie sinnlos meine Jacke danach abtaste, bis ich begreife, worauf er hinauswill. Held sein, einmal nur. Dumm, dass er nicht bedacht hat, dass ein Rollentausch immer beide Spieler betrifft und er es nicht erträgt, dass ich nun derjenige bin, der jegliche Vernunft sausen lässt. Ich lasse mich gehen, berausche mich an Kummer und Selbstmitleid und nicht weniger steht mir zu. Die Wunde ist tief, und noch bin ich nicht gewillt, sie heilen zu lassen, aber sie wird mich nicht töten. Noch bevor ich das Jesse erklären kann, holt er weit aus und schleudert die Packung ins Meer. Er blickt ihr nach, eine schwarze Silhouette vor dem weißen Mond und plötzlich weiß ich, warum wir hier sind.

Vielleicht liegt es an Jesses Überraschung, dass mein erster Schlag ihn von den Füßen holt, so oder so fühlt es sich gut an, und ich lege nach. Etwas Verkümmertes erhebt sich aus der Dunkelheit und schafft sich zornig Platz. Vorschläge und Ratschläge. Ich muss keine Waffen wählen, sie fallen mir zu. Unter mir krümmt sich Jesse, aber zu viele verpasste Gelegenheiten schieben jedes Mitleid zur Seite. Das Meerwasser frisst sich den Jeansstoff hinauf. Nasse Waden, nasse Schenkel, nasser Arsch. Ich schleife Jesse aus dem Wasser, lege meine Hand auf sein Gesicht und erhöhe den Druck. Befreiungsschläge
Was hältst du davon, Traumhändler?“
Er ist kein Held, so sehr er es heute auch sein wollte, aber was Schlägereien angeht, verfügt er über die größere Erfahrung. Seine Faust trifft unvermittelt, hart und präzise auf meinen Kiefer.
Nichts.“
Und so ist es.
Schwarz.

Pochender Schmerz weckt mich. Der Strand ist in warmes Orange getaucht, aber ich friere erbärmlich. Vorsichtig hebe ich meinen Kopf von Jesses zusammengeknäulter Jacke und betaste meinen Kiefer. Jesse. Er sitzt direkt neben mir, die Schwellungen in seinem Gesicht sehen im sanften Morgenlicht bereits hässlich aus, aber als er sieht, dass ich wach bin, lächelt er. Hinter ihm erhebt sich eine filigrane Sandskulptur.
Ich lächele zurück.
Die dunklen Tage haben gerade erst begonnen.


Freitag, 13. März 2015

Im Beet (Tiens, Mallika!)

Er ist entschlossen, zu gehen.
Im Januar waren sie geflohen. Vor anklagenden Augen. Vor Lippen, die nicht müde wurden, bösartige Worte wie üblen Mundgeruch zu verbreiten. Sie kamen nicht an, flohen nun voreinander. Er in sein Studium, sie in die Gärtnerei. Wie Schlafwandelnde trafen sie abends aufeinander. Er kochte Gerichte, die er schweigend vor dem Fernseher verzehrte, während sie nach wenigen Bissen das Besteck nieder legte und schlafen ging. Blaue Schatten wuchsen unter ihren Augen. Das Schweigen gedieh zwischen ihnen beiden, grub fahle Wurzeln in den vergiften Boden. Nachts erwachte er von ihren Schreien, ihren trommelnden Fäusten und ihren Nägeln, die sich gnadenlos in seine Brust krallten. Die wenigen Male die sie miteinander schliefen waren unerträglich. Ängstlich huschten ihre Augen über sein Gesicht, ihr Feenkörper versteifte sich und später lag sie zitternd und weinend in seinen Armen. Sie fiel und er konnte sie nicht halten. Das Tier war gefangen, aber die Dämonen hatten sie verfolgt.
Der Exorzist war ein Blumengroßhändler und statt eines Rosenkranzes, brachte er drei Paletten verkümmerter Gardeniensetzlinge. Sie verbrachte ihre Tage im Gewächshaus, zählte die Pflanzentriebe wie eine Mutter die Finger und Zehen ihres Neugeborenen. Einige spezielle Sorgenkinder platzierte sie auf den Fensterbänken der Wohnung. Anfangs beunruhige ihn ihr Eifer, er versuchte sich in der Analyse und gab es schließlich auf. Der Grund war jenes Rot, das ihre Wangen färbte, wenn sie abends von ihren Pflanzen sprach. Der Grund war ihr tiefer ruhiger Schlaf, die Erschöpfung, die Albträumen keinen Raum ließ und das Flüstern, dass sie leben wolle.
Der April zog ungewohnt mild ins Land, ließ Verkümmertes wachsen und weckte ihn eines Morgens mit einem schwachen, betörenden Geruch, der ihn auch den restlichen Tag über nicht verließ. Es war dieser Geruch, der ihn am frühen Abend dazu brachte sie entgegen seiner Gewohnheit von der Arbeit abzuholen. Der Laden war bereits geschlossen und er betrat das Gewächshaus wo ihn die Sinneseindrücke überwältigten.
Subtropisch schlug es ihm entgegen, der vertraute Duft um ein vielfaches verstärkt, unterlegt von Tönen, die ihn verschwommen an den Musikunterricht erinnerten. “Sie spielt ihnen Delibes vor, natürlich.” Das Lächeln, das diesem Gedanken folgen wollte, entschied sich anders. Denn da war sie, die Augen geschlossen, filigranes Muskelspiel, kein Tanz sondern eine so hingebungsvolle Liebeserklärung an die Musik, dass er sich wie ein Spanner fühlte. Aber keine Wut lag in ihrem Gesicht als sie ihn sah, sondern etwas Fremdes, Anziehendes. Er hatte sie nur küssen wollen und es war nicht so sehr die Tatsache, dass sie die Schürze von ihrem Körper gleiten ließ oder die Entdeckung, dass sie darunter nackt war, als ihr Blick, fest und fordernd, der mehr verlangte. Später, als sie einander lächelnd die warme, klebrige Erde von den erschöpften Körpern wischten und das zerwühlte Beet wieder glatt harkten, kam die Angst.
Unbegründet. Der Sommer war üppig. Tag und Nacht wehte eine sanfte Brise, trug den Duft der blühenden Gardenien in die Wohnung und trocknete den Schweiß. Der Sommer klang nach ihrem überraschend kehligen Lachen und schmeckte würzig. An jenem Nachmittag im Gewächshaus hatte er geglaubt, Lust in ihren Augen zu sehen, aber es war mehr. Maßloser Hunger und nichts vermochte ihn zu stillen. Eine wilde Routine stellte sich ein. Abends kochte er opulente, scharfe Gerichte, die sie gierig verschlang und dazu Rotwein trank. Sie wuchs. Wenn sie sich liebten, schlangen sich muskulöse Beine um seine Hüften, war es ein sinnlicher Körper, der dann erschöpft über seinem zusammen sank. Im Dunkeln lagen sie nebeneinander, gönnten ihren ausgelaugten Körpern Ruhe und flüsterten von der Zukunft. Hin und wieder blickte er zu der Silhouette der Blüte, die sich vor dem hellen Himmel der Stadt abzeichnete. Er war nicht eitel genug, um sich für ihre Veränderung verantwortlich zu fühlen und deshalb gönnte er ihren Pflanzen einen Teil der Leidenschaft. Morgens stand sie vor ihm auf, richtete die Blumentöpfe neu aus und fabrizierte im eigens dafür angeschafften Mörser ihre Düngemischung. Er mochte das stumpf knirschende Geräusch, noch mehr dessen Ende, denn es kündigte an, dass noch einmal ins Bett kam und mit ihm schlief bevor sie in den Tag gingen, der nur geschaffen war, um die Vorfreude auf das Wiedersehen zu steigern. Allein: der Wind flaute ab.
Der September lag stickig über der Stadt, als ihm das erste Mal auffiel, wie riesig die Pflanzen geworden waren. Er spürte leichten Widerwillen, als er eines der ledrigen Blätter berührte. Der Geruch war allgegenwärtig. Noch immer waren die Abende fröhlich, aber es fiel ihm immer schwerer, sich auf ihre Erzählungen, auf überhaupt etwas anderes als dieses schwere, süße Aroma zu konzentrieren. Seine Lust auf sie ließ nach, aber das schien sie nicht zu stören. Ruhig schlief sie neben ihm, während er wach lag und die Pflanzen so lange anstarrte, bis sich die fleischigen Blüten vor seinen Augen ins Monströse auswuchsen. Er bat sie, die Pflanzen aus der Wohnung zu schaffen, sie weigerte sich und zum ersten Mal stritten sie lautstark miteinander. Als er wütend und geschlagen das Haus verließ, wünschte er sich für einen kurzen, schuldbewussten Moment das zarte, gebrochene Wesen von einst herbei. Schon morgens verursachte ihm der Gardeniengeruch Übelkeit bis zum Erbrechen, schwefelgelb wie der Himmel vor einem Gewitter und höhnisch grinsten die Blüten von der Fensterbank, während das Geräusch des Stößels Löcher in seine Schädeldecke schlug.
Es ist kalt, aber besser als in der Wohnung, wo sie das Klima feucht und warm hält. Er hat es sich angewöhnt, vor ihr aufzustehen und dann in einem Café zu frühstücken. Nach der Uni besucht er oft Freunde oder bleibt in der Bibliothek bis diese schließt. Eigentlich ist er nur noch zum Schlafen zuhause und auch das wird sich ändern. Es ist wieder wie früher. Es ist schlimmer als früher, denn jetzt weiß er, wie es sein könnte, hat die bitter gewordene Erinnerung an diesen unglaublichen Sommer. Ein Kommilitone hat angerufen und ihm ein Zimmer angeboten. Deswegen kehrt er nun um anstatt zur Uni zu fahren. Er will es gleich hinter sich bringen. Im Treppenhaus empfängt ihn “Viens Mallika” in ohrenbetäubender Lautstärke und er schiebt die schimpfende Vermieterin beiseite und stürmt, immer drei Stufen auf einmal, nach oben denn noch lauter als die Musik hört er Poltern und ihre Schreie. Die Wohnungstür ist nur angelehnt und im Flur liegen Pflanzenteile zwischen Tonscherben und Erdhaufen. Auf dem Tisch steht der Mörser und daneben liegt ein kleines, irgendwie vertrautes Päckchen mit der Aufschrift “Diane” und dann hält er inne denn da steht sie. Nackt, mit einem Vorschlaghammer in der Hand und sein Blick fällt zuerst auf ihr tränenüberströmtes Gesicht und dann auf ihren gewölbten Bauch.

Dienstag, 17. Februar 2015

Emain Ablach (vollständig)

Es dauert nicht lange, bis ich einen Ort als Zuhause bezeichne. Jugendherbergen, Schullandheime, Ferienhäuser und nun diese Waldhütte. Kerzen brennen hinter den trüben Scheiben. Jennifer mag es, das Haus so zu beleuchten, warm und heimelig, sie liebt den Gedanken, mir den Weg zu weisen und ich lasse sie, obwohl die helle Exponiertheit mir nicht behagt. Ich hasse die Unsicherheit meiner Schritte auf den letzten Metern, weil sich meine Augen während des Heimwegs an die Finsternis gewöhnt haben und das Licht blendet. Lieber sähe ich das Haus im Dunkel mit dem dahinterliegenden Wald verschmelzen, aber das verschweige ich. Als wir hier ankamen, war ich sicher, dass wir einander fortan rauer und schonungsloser begegnen würden. Zusammengedrängt auf wenigen Quadratmetern, eine einzige Tür, die man nur dann hinter sich zuschlagen kann, wenn man zu kompromissloser Einsamkeit bereit ist. Tatsächlich sind wir sanfter miteinander geworden, verträglich und träge. Die Tage fordern uns, zähmen Temperamente und machen die Nächte weich. Es ist zu kalt, um einander Raum zu lassen.

Die Tür lässt sich nicht abschließen, aber wir verriegeln sie mit einem Vorhängeschloss. Es dauert, bis Jen öffnet und obwohl ich so lange in der Kälte war, ziehen sich diese Sekunden hin. Aber dann ist sie da, warme Haut, feuchter Atem und der Geruch von Wacholder. Die Euphorie in ihrer Begrüßung ist neu, gewachsen an Winter und Einöde. Meine Finger sind steif von der Kälte und sie hilft mir aus den Stiefeln, befreit mich aus Kleidungsschichten und flüstert Zärtliches. Immerhin haben wir seit dem Sommer fließendes Wasser, sodass sie nicht mehr für jeden Eimer zum Brunnen laufen muss. Die Wanne ist nicht mehr als ein metallener Trog, aber ich weiß sie zu schätzen. Das warme Wasser entspannt die erschöpften Muskeln und treibt die Kälte aus. Jens Hände gleiten durch mein Haar, entfernen Späne und entwirren vom Harz verklebte Strähnen. Die Unterwürfigkeit verunsichert mich, aber auch sie gestehe ich ihr zu. Eine stumme, duldende Entschuldigung für die Jahre in denen ich ihre Fürsorge mit grausamen Worten zurückgewiesen habe. Im Fleisch zwischen Daumen und Zeigefinger meiner rechten Hand steckt ein Splitter, der spitz genug war, durch die Handschuhe zu dringen. Jen entfernt ihn vorsichtig. Mit Infektionen ist hier draußen nicht zu spaßen, ein Arztbesuch bedeutet eine zweistündige Autofahrt. Als sie später Jod auf die Stelle tupft, schimpft sie über die Arbeit. Sie hasst die Stunden, in denen ich fort bin und die derbe Ausdrucksweise, welche ich nach einem Tag dort draußen nur langsam wieder ablege und vor allem hasst sie es, dass die Anstrengung meinen Körper hart und kantig macht. Ich mag diese Arbeit und die Menschen, denen ich dort begegne. Rau und unerträglich ehrlich. Außerdem sind wir auf das Geld angewiesen. Als wir hier ankamen, entdeckte Jen den verwahrlosten Pflanzgarten und arbeitete dort mit unbekannter Verbissenheit. Die Ernte war gut, aber noch reicht sie nicht aus, um uns zu versorgen. Weitere Sommer werden kommen müssen.

Zum Abendessen gibt es Reibekuchen mit warmem Apfelmus. Die Gläser mit eingekochtem Obst stehen in dem wackligen Küchenregal, noch mehr davon stapeln sich in dem kleinen Kellerverschlag. Dazwischen Kartoffeln, Kräuter und getrocknete Pilze. Wir waren zu unerfahren, um den Rest zu konservieren. Jen entdeckte den Schimmel auf ihrem Tomatenchutney als ich im Wald war. Als ich zurück kam, fand ich sie weinend zwischen zerschmetterten Einmachgläsern. Ihr Anblick versetzte mich in Panik, im ersten Moment hielt ich die rote Masse mit der sie beschmiert war für Blut. Vielleicht packte ich sie zu hart, war zu ruppig, als ich die Flüssigkeit beiseite wischte und ihre Arme nach vermeintlichen Wunden absuchte. Sie schlug mir ins Gesicht, in den Augen eine Mischung aus Wut und so elementarer Angst, dass ich mehr davon als von der Wucht des Schlags zurücktaumelte. Sofort war sie bei mir, streichelnd und schluchzend. Ich weiß nicht mehr, wie oft sie sich in den folgenden Tagen entschuldigte. Für die Ohrfeige, das verdorbene Essen und den Kontrollverlust. Ich nahm an, wieder und wieder. Ich verstand Frust und Enttäuschung. Einzig für ihre Angst vor mir bat sie nie um Verzeihung. Und ich vergab nicht, dass sie ihn in mir gesehen hatte.

Viel habe ich nicht mitgenommen. Den Schlafsack, der uns als Decke dient. Das Handy für Notfälle. Vom Haus aus muss man einige Schritte gehen, um ein Netz zu finden, aber wir schalten es nie an. Das schmale Etui, das die mittlerweile stumpfen Jagdmesser meines Vaters enthielt. Dunkles Leder mit goldenem Monogramm. Früher war es überall. A.P. Auf Badetüchern, Tischfeuerzeugen, Servietten. Nachdem ich mit 16 auf einer Party einen schlechten Trip erwischt hatte, zog ich mich Zuhause vor dem Spiegel aus, getrieben von der Vorstellung, die elenden Buchstaben auch auf meinem Körper zu finden. Tatsächlich hat er mich viel tiefer markiert. Sein Stempel prangt auf meiner Seele. Hier könnte ich ihn loswerden. Mich lange genug dem rauen Klima aussetzen, bis er abblättert und verwittert wie das Monogramm auf dem Etui. Heute liegen darin zwei Fotos. Ein Portrait meiner Mutter, um nicht zu vergessen. Ein Bild ihres Grabes, um nie zu vergessen. Mein Leben in einer Kiste, Jens daneben. Ich weiß nicht, was sie mitgenommen hat, diese Kisten sind tabu und ich schiebe sie vorsichtig beiseite, um an das Nähzeug zu gelangen. Während ich meine Socken stopfe, liest sie aus einem der Bücher vor, die ihr Onkel hier gelassen hat. Die Hütte ist geschaffen für ihre Stimme, klein genug, um davon ausgefüllt zu werden. Vielleicht ist sie auch mit ihr gewachsen, hat Resonanz und Volumen ihrem neuen Wesen angeglichen. In unserem alten Haus klang sie dünn und brüchig. An jenem Abend, als er sie zum ersten Mal mit nach Hause brachte, wollte sie mir vorlesen. Damals war ich zehn Jahre alt und meine Mutter seit vier Monaten begraben. Jen wusste nichts davon, arglos und großäugig war sie dem Monster in seine Höhle gefolgt und versuchte, dort zu überleben. Ich war ihr dabei keine große Hilfe, aber sie lernte schnell. Funktionieren war wichtig.

Im Dunkeln gleitet Jens Hand zwischen meine Beine. Das war nie mein Plan. Ich wollte, dass er das Haus verlassen vorfindet, die Puppenstube geräumt. Mein Verlust allein schien nicht genug, wenn ihm noch eine Marionette blieb. Das folgende Gespräch mit Jen war das längste, das wir in all den Jahren des Zusammenlebens führten. Ich war mir sicher, dass sie verstehen würde. Naiv war sie, aber nicht ihrer Instinkte beraubt und sie hatte längst begriffen, dass ihr Weg sie dorthin führen würde, wo die Überreste meiner Mutter lagen. Jen überraschte mich nicht nur mit ihrer Zustimmung, sondern auch mit einem konkreten Plan und Ziel. Ihre Entschlossenheit war so neu und fremd, dass ich erst in dem Moment in dem ich das Auto vor der verlassenen Jagdhütte ihres Onkels parkte realisierte, dass wir es tatsächlich durchgezogen hatten. Anfangs redeten wir kaum miteinander. Aus Gewohnheit, aber auch überwältigt von der neuen Freiheit und voller Angst, davor dass der Andere zweifeln könnte. Mit der Zeit verlor unser Schweigen die Befangenheit, wurde angenehm und vertraulich. Erst danach wurden aus knappen Worten Gespräche und wir entdeckten neue Seiten aneinander. Als ich Jens Geschick im Umgang mit den Pflanzen bewunderte, erfuhr ich, dass sie gelernte Gärtnerin war. In unserem früheren Leben hätte ich mir nicht vorstellen können, wie ihre schmalen blassen Hände in der Erde wühlten. Hier draußen war es anders. Das Land schliff uns, trug Schutzschichten ab und legte unsere wahre Natur frei. Warm wich das Frühjahr dem Sommer. Ich fand Arbeit bei den Holzfällern. Harte Arbeit, aber es gab Geld und niemand stellte unangenehme Fragen. Die Tage wurden länger und der Garten grün. Als ich eines Abends nach Hause kam, wässerte Jen ein neu angelegtes Beet. Ihre Haare waren strähnig und feuchte Erde klebte zuerst nur an ihren blassen Beinen, später überall. Danach schlief ich nie wieder auf dem Boden. Jen ist geschickt, weiß die Müdigkeit für einige Zeit aus meinen Knochen zu vertreiben. Ich lerne, sie zu begehren, ficke nicht länger seine Frau sondern schlafe mit Jen. Warm, weich und gut.

Später bleibt sie bei mir, legt ein Bein um meine Hüfte und flüstert in mein Ohr. Ich schlafe schon beinahe, aber auch mein Unterbewusstsein weiß, dass sich ihre Aussagen irgendwann zu Fragen wandeln und eine Antwort erfordern werden. Eine Entscheidung, die ich hinaus schiebe. Wir wurden in ein gemeinsames Leben gezwungen. Gefunden haben wir einander erst hier draußen in der warmen feuchten Erde. Ich weiß, wie rot ihr Haar im Schein des Lagerfeuers leuchtet, wie sie nach einem Arbeitstag duftet und wie das Flusswasser aus ihrem Bauchnabel schmeckt. Dennoch bleibt die Angst, sie könnte eines Tages kapitulieren, schwach werden und vor den Umständen in die Knie gehen. Ich schiebe den Gedanken mit Jens Bedürfnissen beiseite, lasse mich einlullen von der Müdigkeit, der Wärme und ihren Worten.

Ich erwache vom Knarren der Tür. Kurz darauf wird es so hell, dass ich die Augen zusammenkneifen muss. Neben mir ist es kalt, Jens Körper fehlt und ebenso das Messer, das eigentlich auf dem Fenstersims liegen sollte. Die Stimme ist bekannt, gibt in kurzen Sätzen Anweisungen und dann zerren mich kräftige Arme aus dem Bett. Er ist nicht allein gekommen. Tatsächlich sind sie zu viert. Langsam gewöhnen sich meine Augen an das Licht. Sein Gesicht ist kantig und ausdruckslos und doch spüre ich, wie seine Wut den ganzen Raum füllt. Er hat mich nie angerührt und auch heute tut er es nicht. Stattdessen nickt er knapp und einer seiner Handlanger schlägt mir ins Gesicht. Mein Kopf fliegt zur Seite und eine plötzliche unangenehme Hitze breitet sich von der linken Wange aus über mein Gesicht aus. Keine Pause, dem ersten Schlag folgen weitere. Mein Kopf dröhnt und bevor es um mich herum dunkel wird, sehe ich Jen neben der Tür. Sie trägt ein fremdes, spitzenbesetztes Nachthemd und hält das Messer mit dem Monogramm an ihre Brust gepresst. Sie kapituliert nicht. Sie funktioniert. Prächtig.